Didier C. Deutsch

Didier C. Deutsch

Unser New Yorker Korrespondent Didier C. Deutsch berichtete seit 1991 für »musicals« über die Musical-Premieren am Broadway – lesen Sie hier seinen ganz persönlichen Rückblick auf die letzten 30 Jahre, den er 2020 während des Corona-Lockdowns verfasste:



Als ich vor 30 Jahren begann, für »musicals« zu schreiben, war Stephen Sondheim auf dem Höhepunkt seiner Popularität, das Ergebnis einer intensiven kreativen Karriere in den vorangegangenen Jahrzehnten, und Andrew Lloyd Webber, dessen ‘Phantom der Oper’ 15 Jahre zuvor uraufgeführt und bis dahin ein durchschlagender Erfolg war, war bereit, mit seinem nächsten Hit ‘Sunset Boulevard’ wieder zuzuschlagen, nachdem er einen herben Rückschlag erlitten hatte, als ‘Aspects Of Love’ am Broadway floppte.

Als Mitglied der ATCA, der American Theater Critics Association, hatte ich seit 1968 Aufführungsbesprechungen neuer Broadway-Musicals für eine breite Palette kleinerer Publikationen beigesteuert, von denen sich allerdings die meisten nur am Rande mit Musicals beschäftigten. Aber mit »musicals« (oder genauer gesagt »Das Musical«, wie die Zeitschrift damals noch hieß) kam ich zum ersten Mal mit einer seriösen, wenn auch ausländischen Zeitschrift in Kontakt, und Presseagenten, die anfangs noch zögerten, mir Pressekarten für die Musical-Premieren zuzuteilen, erkannten bald die Bedeutung und die zunehmende Verbreitung der Zeitschrift, die dem wachsenden Interesse am Musicaltheater in Europa entsprang.


Dieses Interesse fand natürlich auch ein Echo in der englischsprachigen Fachpresse in den Staaten und in England, wo man sich jedoch primär auf die alten Musical-Klassiker und die aktuellen Uraufführungen konzentrierte und ansonsten vielleicht noch Besprechungen von neuen Cast-Aufnahmen brachte. Aber »musicals« war das erste internationale Magazin von Bedeutung, das sich mit Musical-Aufführungen in Deutschland, Österreich, London und anderen Ländern beschäftigte – und natürlich auch das Geschehen am Broadway ausführlich berücksichtigte. Das war vor 30 Jahren …

Die Corona-Pandemie hat die Saison 2019/2020 abrupt beendet, gerade als sie Ende Mai mit dem Stichtag für die Tony-Nominierungen ihrem Höhepunkt entgegensteuerte. Infolgedessen wurden viele neue Musicals bis auf Weiteres auf Eis gelegt: Eine Wiederbelebung von ‘Company’, das aus London importiert wurde; das bizarre ‘Flying Over Sunset’, in dem es um den Hollywood-Star Cary Grant, die Dramatikerin, Kongressabgeordnete und Botschafterin Clare Booth Luce sowie um Aldous Huxley (Autor von ‘Schöne neue Welt’) geht, die alle drei im Los Angeles der 1930er-Jahre auf LSD waren; ‘Six’, ebenfalls ein Transfer aus England, über die sechs Ehefrauen von Heinrich VIII. und ‘Mrs. Doubtfire’, eine mit Spannung erwartete musikalische Bühnenversion des Films von 1993, in dem Robin Williams die Hauptrolle gespielt hatte. Es bleibt zu hoffen, dass einige von ihnen den Lockdown überleben werden, der alle Broadway-Theater am 12. März zur Schließung zwang.


Normalerweise hätte ich zu all diesen Musical-Premieren nahezu im Wochenrhythmus neue Rezensionen für »musicals« geschrieben – was jetzt noch blieb war ein plötzlicher Mangel an Aktivitäten … Aber dann kam mir die Idee, doch vielleicht mal einen Rückblick auf all die Shows zu werfen, die ich seit meinem Eintritt in das »musicals«-Team gesehen hatte, und vielleicht auch mal meine früheren Meinungen zu überdenken. Die 1990er- bis 2010er-Jahre waren sehr aktive Jahre am Broadway, und als ich meine Archive durchsah, zählte ich nicht weniger als 387 Produktionen, die auf die Bühne kamen, darunter einige wenige epochale, wie ‘Der König der Löwen’ oder das Revival von ‘Chicago’, die beide bis zum Lockdown noch liefen, mehrere ausgezeichnete Produktionen, die einem bis heute noch im Gedächtnis haften geblieben sind und eine große Anzahl von Shows, die von einem spontanen Vergnügen bis hin zum regelrecht Peinlichen reichten.


Wohl wissend, dass meine Meinung nicht von allen geteilt wird, bin ich die ganze Liste durchgegangen, um herauszufinden, welche Shows bei mir die stärksten Eindrücke und länger anhaltende Erinnerungen hinterlassen haben. Dies war natürlich ein rein subjektives Unterfangen, aber eines, das ich letztendlich als aufschlussreich empfand. So erinnere ich mich zum Beispiel vage an ‘Miss Saigon’, das am 11. April 1991 am Broadway eröffnete und es immerhin auf 4.092 Vorstellungen brachte, aber ich muss zugeben, dass mich diese moderne Adaption von ‘Madame Butterfly’ nicht allzu sehr beeindruckt hat. Die eine Szene, die mir eine Weile im Gedächtnis blieb, war Jonathan Pryce als The Engineer, der “The American Dream” sang, Alain Boublil und Claude-Michel Schönbergs Antwort auf Benny Andersson und Björn Ulvaeus' “One night in Bangkok” in ‘Chess’.

Auch wenn ich die kreativen und handwerklichen Techniken bewunderte, die von der Disney-Organisation entwickelt wurden, um ihre Bühnenpräsentationen so zauberhaft wie ihre Filme aussehen zu lassen, hinterließ der Hit ‘Die Schöne und das Biest’ trotz 5.461 Aufführungen bei mir keinen starke Eindruck. Zugegebenermaßen war die Verwandlung der Bestie in einen verführerischen jungen Prinzen etwas, das nicht alle Musicals zu bieten hatten – es war wirklich magisch, aber es kam erst ganz am Ende des Abends und was davor geschah, hatte für mich nicht den gleichen Reiz.


Ich möchte eine Randbemerkung zu den Disney-Bühnenproduktionen machen, die die Broadway-Szene seit den 1990er-Jahren in großem Stil belebt haben und bis heute beleben – aber während einige wirklich wunderbar waren, hinterließen andere keinen nachhaltigen Eindruck.


‘The Lion King’, das am 13. November 1997 am Broadway eröffnete und immer noch vor vollem Haus spielt, ist das superperfekte Musical. Dank der Vision von Julie Taymor, die es inszenierte und die Kostüme entwarf, setzte es die Messlatte, an der sich alle anderen messen lassen mussten. Im Vergleich dazu ist es schwierig, ‘Tarzan’ zu bewundern, das am 10. Mai 2006 in New York uraufgeführt wurde und trotz seiner Partitur von Phil Collins, einem Garanten für musikalische Qualität, in seinem falsch aussehenden Bühnen-Dschungel einfach nicht zum Fliegen kam und deshalb nach nur 486 Vorstellungen wieder schließen musste. Oder ‘Frozen’, das kalt und einfallslos war: Es öffnete am 22. März 2018, erhielt gemischte Kritiken und wurde nach 825 Vorstellungen zum ersten Opfer der Corona-Krise erklärt, als es am 12. März 2020, dem Tag, an dem der Broadway dunkel wurde, endgültig abgesetzt wurde.


Ebenso fällt es mir schwer, mich an ‘Mary Poppins’ zu erinnern, das am 16. November 2006 an den Broadway transferiert wurde und 2.619 Vorstellungen erlebte. Weniger überzeugend als der gleichnamige Film, war jedoch für mich der größte Nachteil, dass die Darsteller, als sie fliegen sollten, für jeden Zuschauer deutlich sichtbar angeschnallt waren und an dünnen Seilen hingen. Vielleicht war das Ansporn für die Disney-Techniker, bei ‘Aladdin’, der seit seiner Entstehung am 20. März 2014 noch immer läuft, mit einer Fahrt auf einem fliegenden Teppich einen geradezu magischen Theatermoment zu schaffen, der so perfekt ausgeführt ist, dass das Publikum verblüfft ist und sich jeden Abend aufs Neue fragt, wie sie das denn gemacht haben.


Auch wenn es manchmal unfair sein mag, sind Vergleiche mit dem ursprünglichen Quellenmaterial unvermeidlich, insbesondere wenn die Bühnenversionen die Lieder und Geschichten der Originalfilme wiedergeben, wie es bei einigen der Disney-Shows der Fall war. Und selbst wenn eine Show zu einem Blockbuster wird, bedeutet das nicht unbedingt, dass sie im Vergleich zu anderen Produktionen, die beim Publikum vielleicht eine geringere Resonanz gefunden haben, wirklich unvergesslich ist. Was letztlich zählt, ist der Eindruck, den die Shows hinterlassen, manchmal Jahre später, nachdem der letzte Vorhang über ihnen gefallen ist. Von den 387 Produktionen, die ich in den letzten 30 Jahren gesehen habe, habe ich 32 gezählt, die sich bis heute lebhaft in mein Gedächtnis eingebrannt haben, darunter 13 Revivals, und einige, die vor allem dank großartiger Darsteller in Erinnerung geblieben sind. Sie sind nachstehend aufgeführt, und auch wenn Sie sich vielleicht bei der einen oder anderen Show fragen mögen, warum sie in diese Auswahl gekommen ist, so waren diese Produktionen für mich doch denkwürdig genug, um noch einmal erwähnt zu werden.


Die Stücke sind in chronologischer Reihenfolge aufgeführt und in drei Kategorien unterteilt:

- Unvergessliche Musicals

- Unvergessliche Revivals

- Unvergessliche Darbietungen

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